abstracts+biobibs
							
							                                                
						
						                                                                               
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						Michael Härdi
						                                               
						
						
						
						
						
							abstract:
						
						
						
						
							Wunschmaschine
						
						
						
						
						
							Die Lüge ist von kurzer Dauer und hat ein Nachspiel
						
						
						
						
						Der Apparat ist eingeschaltet - die Übertragung beginnt. Wie
						schon oft in diesem Sommer habe ich mich in der Fussball-Bar
						eingefunden. Obwohl ich mich nicht zu den Fussball-Fans zähle,
						zieht mich die Grossleinwand an - ich mag die Gespräche über
						Fussball, und in diesem Jahr im Besonderen über die Chancen
						der eigenen Nationalmannschaft. Wie insgeheim zu erwarten
						war, verliert die Schweiz gegen England.
						
						Am nächsten Tag lautet eine Titelschlagzeile (2, 20minuten vom
						18.6.04) "0:3 - aber die Schweiz darf weiter hoffen" - wie gewohnt
						ist die Aussage etwas übertrieben selbstbewusst, aber sicher
						geeignet, um dem Fussballfieber weiter Vortrieb zu geben. Doch
						in den nächsten Tagen wird die Normalität der Berichterstattung
						massiv gestört: Ein Fussballspieler wird beschuldigt, einen
						Gegner angespuckt zu haben. Das Interessante an dem Vorfall
						ist, dass sich in der Folge eine Reihe von Widersprüchen und
						Fehlern ergaben, anhand derer sich einige Charakteristiken der
						Übertragung eines Ereignisses mittels Massenmedien nachvollziehen
						lassen:
						
						1. Der Spieler versucht, den Vorfall abzustreiten (3, Tages
						Anzeiger vom 21.6.04): "Um halb drei Uhr schien der Fall bereinigt
						zu sein. Die Kontroll- und Disziplinarkammer der Uefa verkündete
						den Freispruch für Alex Frei." Es wird im Konjunktiv
						geschrieben, denn die Ereignisse haben sich sehr schnell ergeben.
						
						2. Fernseh-Aufnahmen beweisen, dass der Spieler doch schuldig
						ist (3, ebenda): "Statt der Bilder vom ZDF, die letzten
						Donnerstag beim Spiel zwischen der Schweiz und England
						gemacht worden waren und Frei nicht überführen konnten, war
						ein Beweis aufgetaucht, der durch nichts zu erschüttern war.
						Aufnahmen von einer Hintertorkamera des portugiesischen
						Fernsehens zeigen eindeutig, wie Frei zuerst am Engländer
						Steven Gerrard vorbeilief, sich in dessen Rücken drehte und ihm
						in den Nacken spuckte." Mit dem Fortschreiten der Zeit werden
						also immer mehr Bilder eines Ereignisses in den 'Informations-
						Pool' eingegeben. Immer mehr Kamera-Einstellungen können
						angesehen werden - gibt es einen Winkel auf dem Fussballfeld,
						der nicht gefilmt wird? Der Fussballspieler ist offenbar davon
						ausgegangen.
						
						3. Knapp einen Monat später: Zwischen den Zeilen wird gesagt,
						dass der Fussballspieler zu der Lüge angestiftet worden ist (4,
						NZZ vom 15.7.04): "Zur Erinnerung: An der
						Europameisterschaft in Portugal hatte der Stürmer Frei im
						Match gegen England den Kontrahenten Gerrard von hinten
						angespuckt. Er vertraute die unappetitliche Geschichte dem
						Kommunikations-Chef Pierre Benoit an, und gemeinsam kamen
						sie wohl zur Überzeugung, über den Vorfall zu schweigen und bei
						Bedarf die Sache abzustreiten." Auch hier wird wieder im
						Konjunktiv gesprochen "gemeinsam kamen sie wohl zur Überzeugung"
						- wir haben nebenbei erfahren, dass es einen
						Kommunikations-Chef gibt und eine Kontroll- und
						Disziplinarkammer - es wird alles durch Regeln und Instanzen
						abgesichert. Der Fussballspieler hat den Medien in erster Linie
						als Sündenbock gedient, wurde zur 'Affäre' und zum Skandal
						gemacht.
						
						In Luhmann (5, S.64) finde ich eine mögliche Erklärung dazu:
						"Normverstösse werden vorallem dann zur Berichterstattung
						ausgewählt, wenn ihnen moralische Bewertungen beigemischt
						werden können; wenn sie also einen Anlass zur Achtung oder
						Missachtung von Personen bieten können. Insofern haben die
						Massenmedien eine wichtige Funktion in der Erhaltung und
						Reproduktion von Moral. Dies darf allerdings nicht so verstanden
						werden, als ob sie in der Lage wären, ethische Grundsätze zu
						fixieren oder auch nur den Moralpegel einer Gesellschaft in
						Richtung auf ein gutes Handeln anzuheben. Dazu ist in der
						modernen Gesellschaft keine Instanz imstande - weder der Papst
						noch ein Konzil, weder der Bundestag noch der Spiegel. Man
						kann nur an den ertappten Missetätern vorführen, dass solche
						Kriterien benötigt werden. Reproduziert wird nur der Code der
						Moral, also der Unterschied von gutem und schlechtem bzw.
						bösem Handeln. Für die Festlegung von Kriterien ist letztlich das
						Rechtssystem zuständig."
						
						
						
						
							Die Gefühle des Rennfahrers
						
						
						
						Ein Sonntag im Sommer:Ausnahmsweise läuft im Fernseher kein
						Fussballspiel. Zufälligerweise zappe ich in die Startszene des
						Automobilrennens von Indianapolis (am 20. Juni 04). Ich mag
						Startszenen von Autorennen - wahrscheinlich nur, weil sich
						besonders viele Unfälle und Missgeschicke ereignen. Diesmal
						geschieht etwas Ungewöhnliches: Ein Fahrer verlässt sein Auto
						und läuft mit höchster Anstrengung zur Boxen-Gasse.Dort steigt
						er in einen anderen Rennwagen. Der Kommentator erwähnt eine
						Regelung, wonach der Fahrer sich beim Start des Rennens in
						dem Auto befinden muss, mit dem er das Rennen absolviert.
						Weiter wird gesagt, dass ein Schiedsgericht noch darüber entscheiden
						muss, ob dieser Start aus der Boxe legitim sei. Mir wird
						dabei die Regelhaftigkeit der Übertragung ins Bewusstsein gerufen
						- die Zuschauer müssen die Regeln zwingend kennen und
						wenn sie nicht als bekannt vorausgesetzt werden können, liegt es
						am Kommentator, eine Erklärung dazu abzugeben.
						Nach den erwarteten Anfangs-Karambolagen liegen viele
						Schrott-Teile auf der Rennstrecke. Ich erfahre nun, dass es einen
						sogenannten 'Savety Car' gibt: Dieser fährt dem Tross voraus und
						darf nicht überholt werden. Nach ein paar Minuten ist die Strasse
						wieder sauber gewischt, der 'Savety Car' verschwindet und die
						Rennwagen flitzen davon. Dieser Vorgang wiederholt sich einige
						Male, da immer wieder Reifen platzen und einzelne Fahrer verunfallen.
						Die signifikanten Szenen, und dies ist eine weitere
						Regel der Sport-Übertragung am Fernsehen, werden dabei in
						Zeitlupe wiederholt.
						
						
						Einmal mehr wird die Strecke für das Rennen freigegeben. Einer
						der Fahrer drückt zu stark auf das Gaspedal; er dreht sich, schleudert
						und knallt mit rund 250 km pro Stunde in eine Wand, wird
						von dort wieder zurück geschleudert und bleibt mitten auf der
						Fahrbahn stehen. Der Fahrer bewegt sich über eine Minute lang
						nicht - der Kommentator zeigt sich beunruhigt. Die
						Berichterstattung konzentriert sich nun darauf, genau festzuhalten,
						wie der Bruder des verunglückten Fahrers reagiert, wenn er
						am Unfallort vorbeifährt. Die Bildeinstellung wird aus seinem
						Wagen gezeigt: Der Kopf bewegt sich leicht nach rechts - er hat
						hingeschaut.Wir sehen dann auch, wie der Verunglückte sich wieder
						bewegt und mitsamt seinem Sitz geborgen wird. Gleichzeitig
						wird viel über Rückenverletzungen und das Risiko des
						Automobilrennsports gesprochen. Das Bild in der Zeitung vom
						nächsten Tag zeigt genau die Szene des 'vorbeifahrenden
						Bruders'. Die Schlagzeile dazu (Tages Anzeiger vom 21.6.04) lautet:
						"Die Freude und das Leid der Gebrüder Schumacher". Die
						Übertragung ist demnach eine Frage der Regie und der
						Inszenierung, der Dramaturgie der Ereignisse und wird von den
						Massenmedien gemeinsam verbreitet. Es wird Wirklichkeit
						geschaffen - der Fokus ist auf die menschliche Gefühlsregung
						ausgerichtet: Wie geht es dem Verunfallten? Gleichzeitig - und
						das wird nicht ausgesprochen - wissen alle Zuschauer, dass ein
						solches Rennen immer noch das Potential des Todes birgt. Das
						Riskieren des Lebens, um die Trophäe zu erlangen - aussergewöhnliche
						Leistungen, die die Aufmerksamkeit der Massen auf
						sich ziehen.
						
						Dazu ein Zitat von Niklas Luhmann (1, S.66): "In lockerer
						Anlehnung an Max Weber könnte man auch sagen, dass
						Handlungen erst durch typisierendes Verstehen konstituiert werden.
						Das macht zugleich die Funktion der Massenmedien in
						ihrem Beitrag zur kulturellen Institutionalisierung des Handelns
						verständlich: Es kommt zu einem Hin- und Hercopieren der
						Handlungsmuster zwischen den Medien und dem, was in der
						Alltagserfahrung sich als Wirklichkeit präsentiert, und damit zu
						einem Abschleifen und Wiederaufbauen von ungewöhnlichem
						Handeln.
						
						Im gleichen Zug wird das Interesse an Personen reproduziert,
						und dies in Formen, die nicht darauf angewiesen sind, dass man
						zu den biochemischen, neurophysiologischen oder psychischen
						Abläufen der betreffenden Individuen Zugang hätte."
						Der Mehrwert eines Autorennens entsteht beispielsweise in der
						Alltagsrealität, indem mehr Autos einer Marke verkauft werden,
						die als sportlich gilt. Dies wiederum schafft soziale Probleme,
						gerade wenn jugendliche Fahrer ihre sportlichen Vorbilder nachahmen.
						
						
						
							Am Steuer des Autos
						
						
						
						Bleiben wir noch etwas bei den Zeitungsmeldungen. Gegenüber
						den Fernseh-Bildern kommen sie mir nüchtern und banal vor, sie
						handeln oft auch von Ereignissen, die im Fernsehen nicht gezeigt
						werden können.Kurzmeldungen sind unkommentierte, unbewertete
						Übertragungen - doch das Gesagte und Nicht-Gesagte sowie
						die gewählten Worte sind bereits starke Interpretationen.
						"Tödlicher Raserunfall im Aargau." lautet der Titel. Die
						Nachricht dazu: "Ein Autoraser hat sich am Mittwochabend bei
						einem Unfall in Hausen (AG) tödliche Verletzungen zugezogen.
						Der 21-jährige Lenker aus Serbien-Montenegro ... ". Also hören
						wir die Worte Raserunfall, Autoraser und erst beim dritten
						Subjekt ist von einem 21-jährigen Lenker die Rede - und woher
						er kommt.
						
						In einer Kolumne (an einem anderen Tag; NZZ vom 9.7.04) wird
						zum selbigen Thema Stellung genommen: "Dieser Fatal ausgelebte
						Machismo auf vier Rädern hat vorallem in südlichen und
						südeuropäischen Ländern eine kulturell gewachsene Tradition.
						Der Fingerzeig von Versicherungen und Polizeibehörden ist
						wichtig und legitim, mit Rassismus oder Sippenhaftung hat er
						nichts zu tun. Deutlich muss aber auch gesagt sein, dass die grosse
						Mehrheit der Lenker aus den Balkanstaaten auf Schweizer
						Strassen keine Raser sind und umgekehrt keine Nationalität
						gegen diese Versuchung gefeit ist." Die Kolumne ist im
						Gegensatz zur Kurzmeldung eine interpretierte (persönliche)
						Meinung. Interessanterweise schafft die Aussage "die grosse
						Mehrheit der Lenker aus den Balkanstaaten auf Schweizer
						Strassen sind keine Raser" genau die Differenz, die sie eigentlich
						aufzuheben versucht. Sie findet zudem eine Parallele in der
						Formulierung aus der Kurzmeldung "der Lenker aus Serbien-
						Montenegro".Wieso muss überhaupt gesagt werden, woher diese
						Lenker kommen?
						
						Dazu ein Zitat von Deleuze / Guattari (S. 134) "Es besteht folglich
						ein segregativer Gebrauch der konjunktiven Synthesen im
						Unbewussten, der nicht mit den Klassentrennungen übereinstimmt,
						wiewohl er eine unschätzbare Waffe im Dienst der herrschenden
						Klasse abgeben mag: er ist es, der das Gefühl erzeugt,
						"wie gut's uns geht", einer höheren Rasse anzugehören, die von
						äusseren Feinden bedroht ist."
						
						Es ist natürlich nicht ganz einfach, dieses Zitat, aus dem
						Zusammenhang gegriffen, mit den Zeitungsmeldungen in Bezug
						zu bringen.Wir können jedoch bestimmte Beziehungen erahnen,
						ein vielleicht unbewusster segregativer Gebrauch der Sprache in
						diesem Sinn unterstellen. Das Beispiel mit dem Autoraser kann
						umgekehrt inhaltlich mit dem Thema von Deleuze / Guattari verbunden
						werden (S. 135): "Das Ziel der Schizo-Analyse besteht in
						Folgendem: die spezifische Natur der libidinösen Besetzungen
						des Ökonomischen und Politischen zu analysieren und darin zu
						zeigen, wie der Wunsch bestimmt sein kann, seine eigene
						Repression im wünschenden Subjekt zu wünschen (woraus sich
						die Rolle des Todestriebes im Anschluss von Wunsch und
						Sozialem ergibt). Das alles spielt sich nicht im Raum des
						Ideologischen, sondern unterhalb seiner ab."
						
						
						
						Der Autoraser ist vom Wunsch ergriffen, schnell zu fahren. Er
						muss sich eine ökonomische Grundlage schaffen und ein schnelles
						Auto kaufen. Sein tun soll nach Aussen eine soziale Aussage
						machen und er kann sich den 'libidinösen Wunsch' erfüllen. Die
						Zeitungskolumne stellt dies als "in südeuropäischen Ländern
						kulturell gewachsene Tradition" dar - so gesehen eigentlich die
						bedenklichste Bemerkung aus diesen Aussage-Fragmenten.
						Denn das Problem könnte ganz anders interpretiert werden: Der
						Leistungsdruck des ökonomischen Systems löst die vielleicht
						falsche Annahme aus, mit einem Auto repräsentieren zu müssen.
						Es ist vielleicht eine Unkenntnis der feineren Zusammenhänge
						dieser Repräsentations-Symbolik, die sowohl zum Fehlverhalten
						des Automobilisten wie auch zu der daraus folgenden
						Interpretation führt. Und vielleicht ist der Zusammenhang deshalb
						besonders schwer fassbar (und in Worte umsetzbar), weil
						sich die Problemstellung unterhalb des 'Raums des
						Ideologischen' abspielt. Eine Passage aus einem Roman von
						Boris Vian (S. 80) kann dies umschreibend darstellen: "Und das
						Groteske, welches an gewissen Familien-Piqueniques zutage trat,
						brachte mich vollends zur Verzweiflung. ... Der russische Salat,
						die Weinbergschnecken und die Nudeln... diese demütigenden
						Formen der familiären Zivilisation, die Gabeln und Gefässe aus
						Alumninium, all das kommt mir in den Sinn - ich sah rot - also
						liess ich meinen Teller fallen und rannte davon, um woanders zu
						sein - ich setzte mich jeweils ans Steuer des leeren Autos, was mir
						ein Gefühl der mechanischen Stärke verschaffte." Das Auto ist,
						so dargestellt, ein Mittel, um dem 'familiären Trauma' zu entgehen
						und eine Wunschmaschine, die Autonomie und
						Unabhängigkeit schafft.
						
						
						
						
						
						
						
						
							bio:
						
						
						
						
						Michael Härdi, geboren 14.5.1971 in Schaffhausen (Schweiz). Schulen in
						Schaffhausen und Zürich.
						
						1991-1995 Studium an der Grafikfachklasse der Hochschule für Gestaltung und
						Kunst Zürich. 1994 dreimonatiges Praktikum am Atelier National de Création
						Typographique ANCT in Paris. 1996 Diplôme de langue, Alliance Française.
						
						
						1997-2000 Nachdiplomstudium am Studienbereich Theorie der Hochschule für
						Gestaltung und Kunst Zürich. 2000 Abschluss als Gestalter FH.
						
						
						Ich bin seit 1997 als selbständiger Gestalter für Print und Internet
						tätig.
						Dabei arbeite ich häufig für Kunden im Bereich der Kultur oder der
						kulturellen
						Vermittlung. Ich sehe die Beschäftigung mit medientheoretischen Themen als
						eine
						wichtige Ergänzung meiner Arbeit als Gestalter und Programmierer. Sie ist
						motiviert durch mein Interesse, den kulturellen Kontext, in dem ich tätig
						bin,
						verstehen zu wollen.
						
						Die Internetseite www.imagedesign.ch dokumentiert meine Arbeit als Gestalter.
						
						
						
						
						
						
						
							linx:
						
						
						
						
						
						
						www.imagedesign.ch