interfiction XIII/2006
prosumer culture(s)
DIY-Produktion in einer Arena des Konsums
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23. Kasseler
Dokumentarfilm- &
Videofest


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Michael Härdi


abstract:

Und wieder mal Ragga - einige Gedanken zur Rolle und Tätigkeit des Dj

Als Beispiel für einen "Prosumer" wird die Tätigkeit des Dj anhand einiger Fallbeispiele diskutiert.

"Djs sterben früh", sagt Norbert - "einer stürzte an einem Sonntag mit seinem Skateboard und erlitt so schwere innere Verletzungen, dass er daran gestorben ist." "Aber sein Tod hatte doch nichts mit seiner Tätigkeit als Dj zu tun?" wende ich ein. "Doch, doch, stell dir vor, stundenlang diesen harten Beats ausgesetzt zu sein, das geht doch an die Substanz. Und da ist der Sturz vom Brett nur noch ein Tropfen auf einen Stein, der in seinem Innersten schon zerbrochen ist."
Der Reihe nach, schlage ich vor, doch nicht zu einfach: Für was die Abkürzung steht, ist allen klar - der Disk Jockey. Der Umstand, dass der Begriff in Englisch erscheint, unterstreicht die kulturelle Dominanz der englischen Sprache in diesem Bereich. Entsprechend zum Begriff "Rock 'n Roll" lohnt sich der Versuch einer Übersetzung ins Deutsche (oder in eine andere Sprache) nicht wirklich, ausser es soll bewusst das Lachen angeregt werden. Platten Spieler wäre es wortwörtlich, doch dieses Gerät heisst auf Englisch turntable, also Drehtisch. Die Übersetzung wirkt in einer Weise "platt", während dem gegenüber die englische Ausdrucksweise einen Code in sich birgt, der irgendwie als "modisch" empfunden wird. Genau mit einer solchen Logik des Codes als Verführung kann auch die Abkürzung des Worts - aus Disk Jokey wird Dj - erklärt werden. Wiederum ganz einfach bezeichnet: Es geht um eine männliche Person, die mit einem technischen Gerät herumspielt. Das Gerät ist nur ein Teil der erforderlichen Gegenstände: Es braucht noch die Platten - wenn möglich nicht nur eine, sondern mehrere, verschiedene.
Der Dj wird sich, wenn er etwas auf sich hält, einen Künstlernamen zulegen, beispielsweise 'Soulinus'. Er ist dann Martin Müller aka Dj Soulinus. Ist der Dj eine Frau, so hat sich das Problem der rein männlichen Form des Begriffs in den letzten zehn Jahren so geregelt, dass sie sich "DJane" oder aber "she-Dj" nennen kann. Gehen wir von der Situation aus, in der mit Platten rumgespielt wird, so ist klar: Der Dj ist nicht allein, wenn alles gut läuft, hat er ein Publikum und dieses will tanzen zu den Platten, die er auflegt. Bleiben wir bei diesem technisch bereits etwas antiquierten Bild des Platten-Auflegens, so sehen wir, dass die Kunst, das Handwerk des Dj's nicht in der Neuerschaffung der Musik liegt, sondern in der Abfolge, der Kombination, die er oder sie erklingen lässt. Es geht um eine Reproduktion, die jedoch etwas 'Eigenes' darstellen soll. Dann werden wir im Nachhinein sagen: "Der Abend war gut, der Dj hat es geschafft, ein unverwechselbares Ambiente hervorzubringen, welches uns immer wieder mitgerissen hat".
Zur sozialen Situation des Dj und der Frage, was ihn zum Dj macht: Sicher kann ich auch bei mir zuhause Platten auflegen und dazu tanzen - allein. Aber ich gelte dann noch nicht als Dj; allenfalls kann dies eine Vorstufe darstellen und sicher wird das "sich alleine Platten anhören" einen Teil der Tätigkeit eines Djs ausmachen - die Vorbereitungsphase. Zudem sollte sich der Dj auf eine bestimmte Musikstilrichtung eingrenzen - auch wenn dies nicht eine zwingende Bedingung darstellt.Wo finden wir die Djs? Wir werden in eine Diskothek gehen oder in einen Club. Ich selbst gehe in meiner Heimatstadt meistens in das selbe Lokal und werde in der Folge einige Aspekte davon beschreiben. Gleichzeitig möchte ich mir Gedanken machen, was mich dazu motiviert, immer wieder dahin zu gehen. Ein Grund ist sicher der soziale Kontakt: Ich möchte Freundinnen und Freunde treffen und mich mit ihnen unterhalten.Wenn ich mehr auf ein Gespräch aus bin, werde ich mich wahrscheinlich nicht auf der Tanzfläche aufhalten sondern eher am Rande oder oben bei der Bar. Ich nehme in dieser Situation den Dj gar nicht bewusst wahr, ausser wenn die Musik zu laut ist, und ich mich nicht oder kaum mehr unterhalten kann. Allerdings würde dabei das Fehlen von Musik auch auffallen, es würde der Eindruck entstehen, dass das Lokal bald schliesst. Wenn ich tanzen möchte, ist dabei entscheidend, welcher Art die Musik ist und ob sie mir gefällt. Die Qualität des Djs ist daher immer auch eine Geschmackssache und eine Frage der Einstellung und Kennerschaft der Konsumenten.

"Fallstudie 1" - die HipHop-Veranstaltung:
Bevor du den Dj siehst, musst du zahlen - eine meistens unumgängliche Regelung. Um sie zu umgehen, beschliesse ich, erst um morgens nach zwei dahin zu gehen, in der Hoffnung, die Kasse und die Türsteher wären dann nicht mehr da. Doch leider weit gefehlt: Das Lokal ist voll, und die Kasse noch da. Es hat keinen Sinn, auf die kommerzielle Ausbeutung von Jugendlichen hinzuweisen in dieser Situation. Doch was tun? HipHop ist eine Macho-Kultur, denke ich mir, und versuche diesen Weg. Ich sage zum Türsteher: "Los komm raus auf die Strasse, ich fordere dich zum Duell - sollte ich gewinnen, musst du mich umsonst reinlassen". HipHop ist glücklicherweise nicht nur Macho, sondern versteht manchmal auch etwas Humor - der Türsteher lacht und lässt mich rein. Sehr gut so, danke. Der Dj ist in voller Fahrt: Er "scracht" mit zwei Platten auf den Plattenspielern vor sich. Das heisst, er lässt die eine Platte als Hintergrund laufen und mischt immer wieder einzelne Umdrehungen der zweiten Platte in den Sound rein, indem er sie mit der Hand hin und her bewegt (eben die Technik, die "scrachen" genannt wird). Dazwischen nimmt er das Mikrophon und schreit Phrasen rein wie "Jo, jo Babe, when I got u in the morning sun". Die Leute sind begeistert; gelegentlich hüpft einer auf die Bühne, der Dj gibt ihm das Mikrophon und er singt ein paar Strophen rein. Allerdings scheint es ein verschworener Zirkel zu sein, der da mitmacht. Aber jeder von ihnen wird für ein paar Minuten zum Star des Abends und die Leute applaudieren, wenn es ihm gut gelingt. HipHop singen bedeutet, sehr schnell zu sprechen bei einer vergleichsweise minimalen Melodie. Es gibt sogar Wettbewerbe, wo ermittelt wird, wer am schnellsten "rappen" kann. Carlito, ein Spanier, der als sein Hobby "Vodka trinken" nennt, kann auch dann noch rappen, wenn er sonst keinen vernünftigen Satz mehr über die Lippen bringt. Aber es geht im HipHop nicht um vernünftige Aussagen - der Rythmus ist viel wichtiger und die meisten im Publikum sprechen sowieso kein Spanisch. Frenetischer Beifall ist ihm sicher und er nutzt die Gelegenheit, auf seine neue CD aufmerksam zu machen. Durchtriebener Kerl, denke ich, er weiss, wie er bei den Leuten ankommt und hat viel Erfahrung damit.

"Fallstudie 2" - der thematische Musikabend:
Es ist "Depeche Mode Sound" und Wave angesagt. Ich gehe schon vor Mitternacht dahin, weil ich diese Soundrichtung gut kenne und mag. Der Eintrittspreis ist einigermassen moderat und ich zahle. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewohnt haben, sehe ich, dass es kaum zwanzig Leute hat. Eine Freundin aus dem Sportclub, die schon angekündigt hatte, dahin zu gehen, ist da - immerhin bin ich nicht ganz alleine. Der Dj befindet sich dieses Mal nicht auf der Bühne, sondern an dem im Lokal eigentlich für ihn vorgesehenen Platz hinter dem Publikum. Bald bemerken wir, dass er Mühe hat, die Übergänge zwischen den Stücken nahtlos hinzukriegen. Die Nadel des Plattenspielers rauscht durch die Leer-Rillen, während er noch in seinen Platten rumsucht. Immer wieder kehrt Stille ein, welche die Stimmung zum Nullpunkt sinken lässt. Zudem hält er sich nicht an den Stil, mischt Funk-Stücke mit rein, die überhaupt nichts mit Wave oder Depeche Mode gemeinsam haben. Ich fühle mich nicht "angetrieben" vom Sound - stehe immer wieder etwas ratlos auf der Tanzfläche. Irgendwann gehe ich zur Bar rauf und tanze nicht mehr.

"Fallstudie 3" - Ragga Muffin und Reggae:
Der Unterschied zwischen Ragga und Reggae liegt in der Art des Gesangs. Während Reggae sich meistens im Stil an den "Grossmeister" (Bob Marley) hält, ist im Ragga der Gesang rhythmischer und erinnert teilweise an HipHop. Der Abend ist zu Beginn eher ein Konzert als eine Tanzveranstaltung. Ein Reggae-Star aus London mit seinem Dj ist zu Besuch bzw. auf Tournee. Der Dj ist ein "Red-Skin" mit Arbeitermütze, der Sänger ein gut gekleideter Gentleman mit afrikanischen Wurzeln. Zunächst macht nur der Dj die Show, legt Stücke auf und inszeniert zwischendurch kleine Sprechgesangs-Einheiten. Nach rund einer halben Stunde kommt der Star: Die Sounds, zu denen er singt, sind von seiner eigenen Band, die aus Kostengründen jedoch nicht mit auf der Tournee ist. Der Sänger hat Klasse, wird von seinem Kollegen am Plattenteller in der Moderation unterstützt. Die Leute tanzen eigentlich gar nicht, sondern schauen wie gebannt zu. Irgendwann kommt das bei solchen Events fast obligatorische "legalize it" - der Sänger versucht mit dem Publikum in Kontakt zu treten, welches dann auch schön brav mitsingt. Nach einer guten Stunde tritt der Sänger ab, der Dj bleibt bis am Ende der Veranstaltung. Ich bekomme das Gefühl, dass der Dj der Supporter ist, der Sänger der eigentliche Star. Und doch wäre der Sänger allein nichts ohne seinen Dj. Der Dj ist zudem die kostengünstigere Alternative zur Band.

"Fallstudie 4" - Progressive House:
Im Programmheft des Lokals ist ein Star-Dj aus Berlin angekündet. Der Mann brüstet sich damit, in seiner jüngsten Sample-Produktion über 200 Copyright-Verletzungen begangen zu haben. Erwartungsgemäss hat es an einem solchen Abend viele Leute und die Türsteher stehen lange da. Ich gehe so um halb drei dahin. Ich schaffe es, mich im Gedränge hineinzumogeln. Der Türsteher sieht es zwar, drückt aber wieder einmal ein Auge zu. Ich habe Glück und der Star des Abends ist immer noch an der Arbeit. Er hat sich auf der Bühne aufgebaut und macht mit einer elektronischen Maschine Töne zum laufenden Sound - "Live-Act" wird das in der Szene genannt. Der Grundtakt ist stampfend wie die Maschinen in einer Fabrikhalle. Die Leute wirken alle glücklich und sind gleichzeitg weit entfernt. Eine solche Veranstaltung ist die ideale Kompensation von Arbeit und Produktion, das Heraustreten aus dem Alltag - hinein ins dröhnende Wubbern. Ich tanze eine gute Stunde, ohne dass sich der Rythmus grundsätzlich ändert. Das düstere Licht und die Lautstärke lassen mich vergessen und ich produziere eine eigene Rolle, die des Tänzers. Die Tänzerinnen und Tänzer nehmen sich zwar wahr, sind aber mehrheitlich auf ihre eigenen, besonderen Tanzschritte konzentriert. Ich kann gut verstehen, dass gerade in der "Techno-House-Szene" viele Leute nur für's Wochenende leben, gerade weil sie sich hier ganz individuell entfalten und präsentieren können.

Das Gemeinsame am Arbeitsumfeld der Djs ist die Freizeitgesellschaft. Die meisten Djs üben die Tätigkeit nebenberuflich aus. Sie arbeiten an Orten, wo andere Menschen sich erholen und Abstand von ihrem Alltag gewinnen wollen. Und oft suchen die Djs in ihrer Arbeit ebenfalls Erholung. Um schliesslich einen kleinen theoretischen Exkurs zu wagen, ein Zitat von Jean Baudrillard1: "Das Kapital beutet die Arbeiter zu Tode aus? Paradoxerweise ist das Schlimmste, was es ihnen antut, ihnen den Tod zu verweigern. Indem es ihren Tod aufschiebt, macht es sie zu Sklaven und liefert sie der endlosen Schändlichkeit eines Lebens in Arbeit aus." Der am Anfang beschriebene Tod des Djs in der Freizeit, oder noch besser bei seiner Arbeit selbst, wäre aus dieser Perspektive ein ideales Ableben in Freiheit. Ein Erlangen des Todes, der bei der Lohnarbeit nicht eintreffen darf. Oder dient die Freizeit gar dazu, den Tod zu suchen? Der Dj hat nicht zuletzt eine wichtige symbolische Funktion, indem er den Konsumenten seiner Arbeit dabei hilft, ihre Arbeit zu vergessen. Djs und Djanes, wie in einem Rollenspiel treten sie auf als Kenner ihrer jeweiligen Szene. Sie helfen dem Publikum, seine Rolle zu finden - eine Identität zu erlangen, welche in der oftmals gleichgeschalteten Arbeitswelt vermisst wird.

Literatur
1. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin 2005. Original Paris, 1976, Seite 70.


bio:

Michael Härdi
hardi-at-imagedesign.ch

Geboren 14.5.1971 in Schaffhausen (Schweiz). Schulen in Schaffhausen und Zürich.
1991-1995 Studium an der Grafikfachklasse der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich.
1994 dreimonatiges Praktikum am Atelier National de Création Typographique ANCT in Paris.
1996 Diplôme de langue, Alliance Française.
1997-2000 Nachdiplomstudium am Studienbereich Theorie der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich.
2000 Abschluss als Gestalter FH.

Ich bin seit 1997 als selbständiger Gestalter für Print und Internet tätig. Dabei arbeite ich häufig für Kunden im Bereich der Kultur oder der kulturellen Vermittlung. Ich sehe die Beschäftigung mit medientheoretischen Themen als eine wichtige Ergänzung meiner Arbeit als Gestalter und Programmierer. Sie ist motiviert durch mein Interesse, den kulturellen Kontext, in dem ich tätig bin, verstehen zu wollen.

Die Internetseite www.imagedesign.ch dokumentiert meine Arbeit als Gestalter.


linx:

www.imagedesign.ch



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